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Die Geschichte der Anästhesie

(griechisch an- „ohne“ und aisthesis, „Gefühl, Empfindung“, also die Ausschaltung der Schmerzempfindung)

Es muss eine Tortur gewesen sein, sich ohne jede Betäubung operieren oder Zähne ziehen zu lassen, sowohl für Patienten als auch für Ärzte. Jahrhunderte lang versuchte man, Patienten mit allen erdenklichen Mitteln unempfindlich gegen Schmerzen zu machen. (1)

Erste Ansätze

Älteste Überlieferungen aus Mesopotamien aus dem Jahr 3000 v.Chr. berichten über die Verwendung von Bilsenkraut, Hanf, Mohn, Wein, Bier und Alraune. (3)

Im 12. Jahrhundert wurden Schlafschwämme beschrieben, die mit Opium und anderen Pflanzenextrakten getränkt waren. (3) Auch physikalische Methoden wie Kompression von zuführenden Blutgefäßen oder Nervenstämmen durch Knebel, Aderlässe und Kälte kamen zur Anwendung. (2)

Die Geschwindigkeit von Operationen war lange Zeit das ausschlaggebende Kriterium für chirurgische Qualität. Blutungen, Schmerzen und Infektionen hatten eine Sterblichkeit von 90% zur Folge, so dass Operationen nur im äußersten Notfall durchgeführt wurden. (2)

Die Anästhesie war eine der bedeutendsten und zugleich auch umstrittensten Entdeckungen des 19. Jahrhunderts, Chirurgen hatten lange nach einer solchen Methode gesucht, doch wurden die ersten Anästhetika – Äther (Diethylether) und Lachgas (Distickstoffmonoxid) - zufällig entdeckt. Lachgas war bereits seit Ende des 18. Jahrhunderts bekannt. Es wurde als Droge auf Jahrmärkten, unter Studenten und sogar von Gästen gediegener Abendgesellschaften als Partydroge benutzt. (4, 5)

Die Pioniere

Crawford W. Long führte 1841 im Städtchen Jefferson, Georgia, eine Arztpraxis und einen Arzneimittelladen. Abends saß er oft mit Nachbarn zusammen und atmete berauschende Dämpfe ein. Er bemerkte, dass ihm Verletzungen im Ätherrausch keine Schmerzen verursachten. 1842 operierte Long den 21-jährigen James M. Venable im Dampf des Schwefeläthers an einem Tumor im Nacken: die erste schmerzfreie Operation der Welt! Da er seine Ergebnisse aber nicht veröffentlichte, erfuhr kaum jemand vom Sieg des Menschen über den Schmerz. (5)

Im Jahr 1844 fiel dem Zahnarzt Horace Wells (1815-1848) im US-Bundesstaat Connecticut während einer Jahrmarktsvorführung auf, dass ein junger Mann unter Einfluss von Lachgas die Schmerzen in seinem verletzten Bein anscheinend gar nicht spürte. Daraufhin setzte Wells Lachgas erfolgreich bei seinen Patienten ein. Als er seine Methode jedoch am Massachusetts General Hospital in Boston vorführen wollte, schrie der vermeintlich eingeschlafene Patient auf und Wells wurde als Scharlatan aus dem Saal gejagt. Sein Narkosemittel war auf Jahre diskreditiert, Wells gab seinen Beruf auf und beging wenige Jahre später Selbstmord. (4,6)

Wells‘ ehemaliger Partner, der Zahnarzt William Morton (1819-1868), saß am 30. September 1846 entmutigt in seiner Praxis. Er suchte Testpersonen. Er hatte Goldfische und Vögel mit Ätherdunst betäubt, er hatte die Wirkung im Selbstversuch, an einem Hund und an seinen Assistenten getestet. Er wollte beweisen, dass dieser Stoff für die Medizin geeignet ist, von dem die Fachbücher berichteten, er habe in Tierversuchen zu Schlaganfällen und zum Tode geführt. An diesem 30. September nun bat ein Mann mit vereitertem Backenzahn Morton um Hilfe. Der Patient fürchtete die Schmerzen der Behandlung. Morton operierte und verfasste anschließen einen Fachartikel. (1, 5) Seither gilt Morton als Entdecker der Äthernarkose, weil er als Erster darüber publizierte. Der eigentliche Entdecker war jedoch Long, der ohne Tierversuche in reiner Selbstbeobachtung den Grundstein für die Anästhesie legte.

Die Neuigkeit der schmerzfreien Operation war in der Welt. Nun brauchte Morton Patienten. Er wandte sich an den Chirurgen John Collins Warren, der ihn sofort nach Boston einlud, um seine Erfindung zu demonstrieren. Am 16.Oktober 1846 war der Operationssaal der Bostoner Klinik überfüllt. Der Patient, ein 20-jähriger Drucker mit einer großen Blutgefäßgeschwulst zwischen Unterkiefer und Kehlkopf, atmete einige Minuten lang durch den Inhalator, der mit einem äthergetränkten Meeresschwamm gefüllt war. Der Patient schlief ein, Warren begann zu operieren. Der gefürchtete Initialschrei beim Durchstechen der Haut blieb aus. Warren wandte sich fassungslos zum Publikum und sprach die Worte: „Gentlemen, dies ist kein Humbug“. (1, 5)

Die Vorteile der Anästhesie waren unbestreitbar, jedoch tat man sich mit der richtigen Dosierung schwer. Bei zu niedriger Dosierung wurden die Patienten unruhig und benahmen sich oft „unschicklich“, so dass die Chirurgie eher als Farce erschien. Die Schwierigkeiten entstanden dadurch, dass die wissenschaftlichen Hintergründe der Anästhesie nicht bekannt waren und die Narkose einfach ausprobiert wurde. Erst durch die Untersuchungen des Londoner Mediziners John Snow (1813-1858) konnten die physikalischen und chemischen Eigenschaften des Äthers und seine Wirkung auf das Nervensystem geklärt werden.

Der narkotisierende Effekt von Chloroform wurde von dem britischen Chirurgen Robert Mortimer Glover (1815-1859) 1842 und dem französischen Physiologen Marie-Jean-Pierre Flourens 1847 in Tierversuchen an Hunden beschrieben. Beide erkannten jedoch nicht die Bedeutung des Chloroforms für die Humanmedizin (7), was eindrücklich zeigt, dass bei tierversuchsorientierten Forschern der Tierversuch oft zum Selbstzweck wird. Es war der schottische Gynäkologe Sir James Young Simpson (1811-1870), der am 4.11.1847 in Edinburgh mit 2 Kollegen im Selbstversuch die narkotische Wirkung des Chloroforms erkannte und anschließend in die Humanmedizin einführte. Bereits Tage später entband er unter Chloroformbetäubung erfolgreich die Frau eines Kollegen, das neugeborene Mädchen erhielt den Namen „Anästhesia“. Im selben Jahr prägte der amerikanische Anatom Oliver Wendell Holmes (1809-1894) den Begriff der „Anästhesie“. (4, 6) Chloroform erlangte später einen hohen Bekanntheitsgrad, nachdem John Snow Königin Viktoria (1819-1901) bei der Geburt ihres 8. Kindes Chloroform verabreichte. (1, 4, 6)

Sowohl Äther als auch Chloroform wurden bis ins 20. Jahrhundert in der Chirurgie verwendet, bis neue Narkosemittel wie z.B. die intravenös verabreichten Barbiturate entwickelt wurden und Erfindungen wie das Laryngoskop oder der endotracheale Tubus die Intubationsnarkose ermöglichten. Diese Entwicklungen erhöhten die Sicherheit und senkten das Sterberisiko auf 1:100 000. (4, 6)

Fazit

Jahrtausende langes Experimentieren, scharfes Beobachten und mutiges Handeln hat die Grundlagen für die Anästhesie geschaffen. Technischen Erfindungen und neue Wirkstoffe ebneten dann den Weg für moderne Narkoseverfahren.

Die Rolle der Tierversuche

Der Zahnarzt William Morton hat Äther an Goldfischen, Vögeln und einem Hund ausprobiert, aber auch an seinen Assistenten und sich selbst und schließlich an Patienten. Er hat damit bewiesen, dass Äther für Menschen sehr wohl geeignet ist, obwohl die Fachliteratur behauptete, dass Äther in Tierversuchen zu Schlaganfällen und zum Tod geführt habe und deshalb für Menschen gefährlich sei. Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, dass man Ergebnisse aus Tierversuchen nicht übertragen kann und wie sehr es die biomedizinische Forschung voranbringen kann, wenn man diese Ergebnisse hinterfragt.

3.9.2018
Katharina Feuerlein, Ärztin

Quellen

(1) Dobson M: Die Geschichte der Medizin. National Geographic History 2013; Band: S. 92-95 und S. 113

(2) Zak, Eva: Narkose einst und jetzt. Semesterarbeit im Rahmen der Weiterbildung für Führungsaufgaben im mittleren Managementbereich, 2003-2004 (PDF, abgerufen am 3.9.2018)

(3) Kliman, Jonathan: Geschichte der Narkose. Christian Doppler Laboratory, Medizinische Universität Wien, 2013

(4) Bynum, William und Helen: Die großen Entdeckungen in der Medizin. Dumont Verlag 2012; S. 218-221

(5) Geo Chronik: Die großen Momente der Menschheit Nr.1 - 100 Triumphe der Medizin. Verlag Gruner + Jahr GmbH & Co KG, Hamburg, 2017; S. 58-61

(6) Volk, Thomas: Die Geschichte der Anästhesie. (ohne Jahresangabe)

(7) Wikipedia: Robert Mortimer Glover (abgerufen am 3.9.2018)