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Der Tierversuch in der Diabetes-Forschung - genauer betrachtet!

In Informationsbroschüren der Pharmaindustrie oder bei Diskussionen zum Thema Tierversuch wird auffällig oft das Beispiel »Diabetes mellitus« bemüht, um vermeintliche medizinische Fortschritte durch Tierversuche zu benennen. Eine genauere Darlegung, wie und wann nun im einzelnen bestimmte Tierversuche angeblich zu verwertbaren Ergebnissen für die Humanmedizin geführt haben, bleibt aus. Bestenfalls erinnert sich noch der eine oder andere an zwei Kanadier, die „Helden“ der so genannten „Insulin-Story“, die auch irgendwie Experimente mit Hunden durchgeführt haben…

Das ist aber doch viel zu wenig, um behaupten zu können, Diabetiker hätten Tierversuchen ihr Leben zu verdanken bzw. die Erfolge der Diabetesforschung würden auf Tierversuchen basieren!

Mit der hier vorliegenden Ausarbeitung soll folgendes genauer aufgezeigt werden:

  1. Der zeitliche Umfang und die Komplexität der Erforschung des Diabetes mellitus und
  2. Die ernüchternde (bis hinderliche) Rolle, die der Tierversuch in diesem Zusammenhang spielte.

Der erste Teil zeigt die Erkenntnisse auf, die letztlich zur Lösung des Rätsels Diabetes führten. Da die Auflistung chronologisch nach geschichtlichen Daten erfolgt, erscheinen die inhaltlichen Bereiche natürlich etwas verstreut. Die Diabetes-Geschichte ist aber auch ein großes Mosaik, das sich aus vielen verschiedenen Steinchen zusammensetzt.

Die Geschichte der Erforschung und Behandlung des Diabetes mellitus im Überblick

1550 v.Chr.
Papyrus Ebers (Ägypten):

  • Beschreibung des Krankheitsbildes.
  • Symptom des »übermäßigen Harnflusses« bereits bekannt.
  • Haferschleimdiät als Therapie.

3. Jahrhundert v.Chr.
Altindische Sanskritmedizin:

  • Symptomatik der Ketonkörperbildung und des Diabetischen Komas beschrieben.
  • Zucker im Urin als Symptom bekannt („Zuckerharnruhr“ und „Honigharn“ als Krankheitsbezeichnung).
  • Demetrius v. Apamaia nennt die Krankheit „Diabetes“.

81-138 n.Chr.
Aretaios v. Kappadokien liefert ausgezeichnete Krankheitsschilderungen:

  • Hauptsymptome beschrieben.
  • Diätvorschriften

Um 1520
Paracelsus (1493-1541) lenkt Augenmerk auf Stoffwechsel:

  • Erhält beim Eindampfen von Urin (Zucker-)Rückstände, die er »Salze« nennt.
  • Vermutete, dass diese auch im Blut vorhanden sind.
  • Der bis zu dem Zeitpunkt in Europa vorherrschende Glaube an die Lehren des Arztes Galen, Diabetes sei eine Nierenschwäche, wurde hier zum erstenmal angezweifelt.

Um 1540
Guillaume Rondelet (1507-1566) weist auf erbliche Komponente des Diabetes hin.

1674
Thomas Willis (1622-1675) »entdeckt« als erster Europäer den (durch Zucker hervorgerufenen) süßen Geschmack des Diabetiker-Urins.

1711
Valentini stellt fest, dass der (durch Ketonkörper hervorgerufene) Urin- und Körpergeruch des Diabetikers identisch sind.

1767
Der französische Pathologe Joseph Lieutand (1703-1780) stellt bei Sektionen von Diabetikern Veränderungen der Bauchspeicheldrüsen fest.

1775
Der französische Arzt Théophile de Bordeu (1722-1776) vermutet, dass Organe auch Stoffe direkt in das Blut abgeben können. (Anfänge der Hormonforschung)

1776
Der Liverpooler Arzt Matthew Dobson (1735-1784) experimentiert mit Diabetiker-Urin und -Blut:

  • Gewann Zucker aus den Flüssigkeiten.
  • Führte die Vergärung des Urins als diagnostische Methode ein.
  • Erkannte, dass der Zucker aus dem Blut in den Urin gelangt.
  • Erkannte ebenfalls, dass auch gesunde Menschen Zucker im Blut haben (nur entsprechend weniger).

1780
Francis Home (1719-1813) entwickelt Gärungsprobe weiter.Thomas Cawley findet bei Sektion eines im Koma gestorbenen Diabetikers Pankreassteine (Pankreas = Bauchspeicheldrüse).

1802
Blutzuckerbestimmung durch Nicolas und Gueudeville.

1833
Richard Bright (1789-1858) vermutet aufgrund von Sektionsbefunden direkten Zusammenhang zwischen Pankreasveränderungen und Diabetes.
Der amerikanische Militärarzt William Beaumont beschreibt die Funktion der Bauchspeicheldrüse bei der Verdauung und vermutet ebenfalls auch eine hormonelle Funktion dieses Organs.

1838
Chemisch fundierte Bestätigung der Identität von Harn- und Traubenzucker durch A. Bouchardat (1806-1886) und Eugène Melchior Péligot (1811-1890).

1842
William Prout (1785-1850) machte Beobachtungen wie später Kußmaul (s.u.).

1852
Der französische Apotheker, Hygieniker und Chemiker A. Bouchardat (s.o.) postuliert enge Beziehung von Pankreaserkrankungen zum Diabetes.

1857
Petters weist Aceton im Urin nach.

1861/1862
Theodor Friedrichs (1819-1885) und George Hardley (1829-1896) finden Pankreaszysten und -abszesse bei Diabetikern.

1864
Jos. Alexander Fles (1819-1905) findet bei Sektion eines Diabetikers eine Pankreasschrumpfung und führt die Krankheit darauf zurück. Therapieversuche mit oral zugeführtem Pankreas.
Friedrich Daniel v. Recklinghausen (1833-1910) und T. A. Hartsen berichten über zwei Fälle von Diabetes mit Pankreasverfettung.

1869
Paul Langerhans (1847-1888) schreibt Doktorarbeit über die mikroskopische Anatomie des Pankreas: Beschreibt u.a. die (Insulin produzierenden) Inselzellen, die später auch nach ihm benannt werden, kann sich aber ihre Funktion noch nicht erklären.

1870
Edwin Klebs (1834-1913) und Herrmann Munk (1839-1912) beobachten einen Fall von Diabetes, bei dem kein Pankreasgewebe mehr vorhanden war.

1873
Alexander Sylver und Erich Harnack (1852-1915) beobachten ebenfalls Pankreasveränderungen bei Diabetikern.

1874
Adolf Kußmaul (1822-1902) beobachtet am Krankenbett die Atmung des Diabetikers im Endstadium (Diabetisches Koma), beschreibt diesen Atmungstyp und führt ihn auf die Blutübersäuerung zurück: Dieser Atmungstyp wird daher auch „Kussmaul-Atmung“ genannt.

1875
Nikolaus Friederich (1835-1882) publiziert Fälle von Diabetes mit Pankreasveränderungen.

1877
Lancéreaux prägt den Begriff „Diabète pancréatique“.

1879
Hermann Senator (1834-1911) meldet Sektionsbefunde mit Pankreasveränderungen.
Lapière meldet 65 Fälle von Diabetes mit Pankreasveränderungen.

1881
Der Arzt Leopold Baumel vertritt die Ansicht, dass jeder Diabetes auf Pankreasveränderungen zurückzuführen ist.

1884
Frerichs weist ebenfalls 12 Sektionsbefunde vor, die o.g. These untermauern.

1885
Max Einhorn (1862-1953) entwickelt das noch heute gebräuchliche Gärungssaccharometer für Urin-Diagnostik.

1893
Edouard Laguesse (1861-1927) benannte die Inselzellen des Pankreas nach ihrem Erstbeschreiber Langerhans und vermutete, dass diese ein Hormon erzeugen.Joseph Seegen (1822-1904)
Sektionsbefunde wie oben.Fernando Battistini (1867-1929) injizierte zwei Diabetikern einen Pankreasextrakt und konnte eine Besserung erzielen.

1894
David Hansemann (1858-1920) berichtet, dass eine Schrumpfung des Pankreas zu Diabetes führte: Er beschreibt 40 ähnliche Fälle.

1895
Christian Dieckhoff beschreibt 53 Fälle von Diabetes mit Fehlen oder Verringerung der Inselzellen.

1898
Naunyn prägt den Begriff »Azidose« für die Blutübersäuerung und macht diese für das diabetische Koma verantwortlich.

1899
Vincenco Diamare (1872-1960) erkannte zwei Zelltypen der Inselzellen. Diese wurden später A- und B-Zellen genannt.

1901/1902
Weitere Sektionsbefunde, die keinen Zweifel mehr an der Richtigkeit der „Pankreastheorie“ („Diabète pancréatique“) zuließen.
Michel Gentes (1872-1921) widerlegt die These, dass die Inselzellen lymphatisch sein. Er beobachtete Fälle von Leukämie, bei denen die Inselzellen unversehrt blieben.

1907
Franz Knoop (1875-1946) weist Beta-Oxydation der Fettsäuren nach. Die Acetonkörper im Diabetiker-Blut wurden somit als Resultat eines gestörten Energiestoffwechsels erkannt.

1908
Prof. Georg Ludwig Zülzer (1870-1949) führte Behandlungsversuche mit Injektionen von Pankreasextrakten bei Patienten durch: Der Blutzuckerspiegel sank zwar, aber der Extrakt enthielt noch zu viele Verunreinigungen, so dass es zu Zwischenfällen kam. Zülzer musste seine Arbeit aufgeben.

1909
Der Belgier Jean de Meyer prägt den Namen „Insulin“ für den vom Pankreas produzierten Stoff, den Diabetiker für die Regulierung des Zuckerhaushalts benötigen, und vermutete, dass Insulin ein Hormon ist.

1921
Dem kanadischen Arzt Frederick Grant Banting (1891-1941) und seinem Landsmann, dem Physiologie- und Biochemie-Student Charles Herbert Best (geb.1899) gelang es, aus Pankreasgewebe durch Alkoholauszug einen gereinigten Extrakt zu gewinnen (das so genanntes „Toronto-Verfahren“):

  • Die Verträglichkeit dieser kleinen Chargen testeten die Forscher im Selbstversuch.
  • Die Wirksamkeit der Extrakte wurde an einem diabetischen Kollegen, dem Arzt Dr. Gilchrist, geprüft.

1942
Bei der Sulfonamid-Behandlung von Thyphus - Patienten wird zufällig entdeckt, dass als Nebenwirkung eine Unterzuckerung auftritt.

1955
Selbstversuche mit Sulfonamiden durch Prof. Hans Franke (1909-1955) und Dr. Joachim Fuchs:
Es war wiederum das Symptom Unterzuckerung festzustellen.
Dies war der Anfang der oralen Therapie-Möglichkeit des Diabetes Typ 2 mit Sulfonamiden.

Tierversuche in der Diabetesforschung

1682
Der Schweizer Arzt und Physiologe Johann Conrad Brunner (1653-1727) führt so genannte „Extirpationsversuche“ mit einem Hund durch:

  • Er schneidet dem Tier (ohne Narkose!) einen Großteil des Pankreas heraus und beobachtet an den folgenden Tagen, welche Symptome auftreten.
  • Tatsächlich zeigt der Hund alle drei Hauptsymptome des Diabetes (viel Wasser lassen, Durst und Heißhunger).
  • Brunner beschreibt diese Symptome ganz ausführlich in seinem Versuchsprotokoll, ohne zu merken, dass er das Krankheitsbild des Diabetes beschreibt!
  • Brunners fatale Schlussfolgerung: Die Bauchspeicheldrüse hat keine Funktion!

1849
Der französische Physiologe Claude Bernard (1813-1878) löste bei Versuchstieren durch Nadelstiche in das Gehirn eine vorübergehende Zuckerausscheidung über die Nieren aus:

  • Damit glaubte er bewiesen zu haben, dass der Sitz des Diabetes das die Blutgefäße versorgenden Nervensystems sei und verbreitete die These von der „Diabète nerveuse“ (auch „Angioneurotischer Diabetes“ genannt).
  • Noch bis zur Jahrhundertwende haben die Anhänger Bernards an dieser Irrlehre festgehalten und verzögerten damit den Durchbruch der richtigen Theorie vom „Pankreas-Diabetes“!

1889
Joseph v. Mehring (1845-1908) und Oscar Minkowski (1858-1931) führten ebenfalls Extirpationsversuche an Tieren durch:

  • Diese Versuche waren aber nur eine Bestätigung für die längst durch klinische Beobachtung gewonnene Erkenntnis, dass der Sitz der Krankheit im Pankreas ist.

Um 1920
Die Kanadier Banting und Best demonstrierten an der Hündin „Marjorie“, dass bei fehlenden Inselzellen eine Insulintherapie den Blutzuckerspiegel im Lot hält.

  • Auch das war keine neue Erkenntnis, sondern lediglich ein Beweis für die Richtigkeit Prof. Zülzers Vorstellungen von einer geeigneten Therapie.

Zusammenfassung und Bewertung der Fakten

Alle brauchbaren Erkenntnisse, die den „roten Faden“ in der Diabetes-Geschichte von der Antike bis in unser Jahrhundert bilden, basieren auf tierversuchsfreien Methoden!

Tierexperimente haben

  • zu keiner neuen Erkenntnis geführt,
  • Bestenfalls eine auf anderem Wege gewonnene Erkenntnis in ihrer Reproduzierbarkeit gezeigt, und
  • insgesamt gesehen der Diabetesforschung eher geschadet als genützt, da sie Anlass zu falschen Theorien gaben.

Hätte man Experimentatoren wie Brunner und Bernard bis heute geglaubt, gäbe es noch immer nicht die Insulintherapie!
Die Behauptung von Tierversuchsbefürwortern, Tierversuche hätten die entscheidende Rolle bei der Entdeckung des Insulins gespielt, entspricht nicht den Tatsachen.

Banting und Best sind nicht

  • die einzigen Diabetesforscher, die es je gab,
  • die Entdecker des Insulins und dessen Wirkung
  • sondern sie haben lediglich auf die über Jahrtausende mühselig zusammengetragenen Erkenntnisse unzähliger Vorgänger das „i-Tüpfelchen“ gesetzt; indem sie das geeignete Extraktionsverfahren, welches Insulin in gereinigter Form herstellbar machte, entwickelten.

Dr. med. vet. Cristeta Brause
20.05.2004