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Es klingt wie eine Folge aus Star Trek oder Star Wars: Die NASA schickt Organchip ins All - doch das ist die Realität, schon seit 2018. Die Raumfahrt als solche boomt bei aller berechtigten Kritik nicht zuletzt seit SpaceX: Immer mehr Menschen fliegen ins Weltall und die Pläne, mehr Menschen auch dauerhaft im All zu stationieren und auf Marsmissionen zu schicken, werden schon länger öffentlich kommuniziert. Um die Auswirkungen der fehlenden Gravitation auf den menschlichen Körper zu untersuchen, werden inzwischen auch immer häufiger Organoide und Multi-Organ-Chips genutzt.

Die Anfänge von weltlichen Lebewesen im All machte unfreiwillig die Hündin Laika, die 1957 von der Sowjetunion ins All geschossen wurde. Sieben Stunden später starb sie an Überhitzung und Stress; ein extrem qualvoller und langer Tod. Viele weitere Tiere wie Hunde, Affen oder Mäuse, sind in den folgenden Jahrzehnten in Raketen ins All geschossen worden. Die Auswirkungen der Schwerelosigkeit auf den menschlichen Körper sollten untersucht werden. Heutzutage gibt es Methoden, die nicht nur ethisch adäquat sind, sondern auch die menschliche Biologie viel besser widerspiegeln als Tierversuche es können. Diese arbeiten mit menschlichen Zellen, die auch gerne zu Mini-Organen, sogenannten Organoiden, weiterentwickelt werden. Diese bilden organtypische Zellarten aus und verhalten sich ähnlich wie ihr Original. Die Mini-Organe können auch auf Multi-Organ-Chips verschaltet werden, sodass eine Art Kreislaufsystem mit Organoiden entsteht. Da dies wie ein Abbild des menschlichen Körpers fungiert, werden sie auch oft als Mikrophysiologische Systeme (MPS) oder einfach „Chips“ bezeichnet. Daran können dann grundsätzliche Eigenschaften und Reaktionen, z.B. auf Medikamente oder Chemikalien, erforscht werden. Werden die Zellen eines Menschen dafür genommen, kann ein Patient-auf-dem-Chip generiert werden. Mit diesen Methoden haben sich großartige Chancen in der personalisierten Medizin ergeben.

Das Weltall: unendliche Herausforderungen

Solche Methoden, die mit menschlichem Material arbeiten, können auch in der Weltraumforschung hervorragend genutzt werden. In einer Raumstation ist der Körper schließlich einer komplett anderen und artifiziellen Umgebung ausgesetzt. Dazu noch in einem Zustand, der auf der Erde so nicht existiert: der Schwerelosigkeit. Das Fehlen der Gravitation hat auf den Organismus noch viele weitere und ernstere Folgen als das bloße Umherschweben: Die Muskeln bauen sich ab, ebenso wie die Knochen. Astronauten sind daher auf tägliches Muskeltraining angewiesen, um die Funktionsfähigkeit zu erhalten. Außerdem gibt es Veränderungen im Immun- und Kreislaufsystem (1). Menschen, die ins All fliegen, sind zudem einer kosmischen Strahlung ausgesetzt, welche die Wahrscheinlichkeit einer Krebs- oder Kreislauferkrankung erhöht und das akute Strahlensyndrom (ARS) hervorrufen kann. „Tiermodelle“, die routinemäßig zur Bewertung der Auswirkungen von Strahlung verwendet werden, können die beim Menschen beobachteten Effekte nicht nachahmen (2).

Schwerelose Forschungsprojekte

iss pixabay
International Space Station (ISS)

2016 initiierten die US-Regierungsbehörden (CASIS*, jetzt ISS National Lab, und NCATS* vom NIH*) daher das „Tissue Chip for Drug Screening“-Programm. Hier werden Gewebechips ins All zu der ISS* geschickt, um die Auswirkungen der Schwerelosigkeit auf die menschliche Gesundheit und Krankheiten besser zu verstehen. Diese Erkenntnisse sollen zur Verbesserung der Gesundheit auf der Erde beitragen (3,4).

2017 wurden fünf zweijährige Stipendien im Gesamtwert von etwa 6 Millionen Dollar vergeben, um die Gewebechip-Technologie für die translationale Forschung an Bord der ISS zu nutzen. Zusätzlich wurden rund 8 Millionen Dollar an Sachleistungen zur Verfügung gestellt. 2018 wurden vier neue Stipendien im Gesamtwert von etwa 5 Millionen Dollar vergeben, um die Technologie zur Erforschung von Krankheitsmechanismen und der Wirksamkeit potenzieller Behandlungen im Weltraum zu nutzen. Diese Forschung hatte zum Ziel, Biomarker, Bioverfügbarkeit, Wirksamkeit und Giftigkeit therapeutischer Mittel vor Beginn von klinischen Studien zu bewerten. In der ersten Phase der Initiative wurden Gewebechips auf der ISS entwickelt und getestet. In der zweiten Phase wurden die funktionalen Anwendungen dieser Modelle für spezifischere Experimente verfeinert. Gewebechip-Entwickler arbeiten für das Projekt mit ISS-Raumfahrtspezialisten zusammen. So werden die NASA-Qualifikationsanforderungen erfüllt und die Vor- und Nachfluganalysen durchgeführt. Im Dezember 2018 starteten die ersten von den NIH unterstützten Gewebechips ins All. Im Mai 2019 folgten vier weitere Projekte, die Lungen- und Knochenmark, Knochen und Knorpel, die Niere und die Blut-Hirn-Schranke nachbilden. Im März 2020 flogen Projekte zu Darm- und Herzgewebe zur ISS. Im Dezember 2020 reisten drei weitere Projekte zur ISS, darunter eines zur Prävention von Osteoarthritis nach Gelenkverletzungen. Zwei Projekte im Mai 2019 hatten 2021 ihren zweiten Flug, und im Juli 2022 folgten weitere zwei Projekte zur Untersuchung von Muskelabbau und Immunalterung sowie dessen Regenerationspotenzial (4).

Zukunftsträchtige Methoden für die Zukunft der Raumfahrt

Die neusten Projekte befassen sich mit der Produktion von Stammzellen im Weltraum. Diese werden im August 2024 auf die ISS gebracht. Bei einem davon wird getestet, ob menschliche induzierte pluripotente Stammzellen (iSPCs) in der Mikrogravitation schneller wachsen und sich teilen. Die Ergebnisse könnten dazu beitragen, Methoden für die künftige groß angelegte Bioproduktion von aus Stammzellen gewonnenen Produkten im Weltraum zu entwickeln. Das könnte zu neuen Behandlungsmöglichkeiten für Herzkrankheiten, neurodegenerative Erkrankungen und viele andere Krankheiten führen. Im Rahmen des zweiten Projekts soll ein neuartiger Bioreaktor für die Produktion von Stammzellen für dessen Einsatz im Weltraum entwickelt werden (5).

Sinnvoll ist die Nutzung dieser Technologien in jedem Fall: Tierversuche sind nicht nur auf der Erde, sondern auch im Weltall nicht prospektiv übertragbar. Jeder lebende Organismus reagiert auch völlig anders auf die Abwesenheit von Gravitation.

Die Erkenntnisse helfen aber nicht nur Astronauten, sondern auch „Erdlingen“. So wurde beobachtet, dass der Ausbruch und das Fortschreiten von Krankheiten während des Raumflugs beschleunigt werden können. Dies ermöglicht neue Einblicke in Krankheitsmechanismen, die sonst erst nach längerer Zeit entstehen. Unter Anderem können Alterungsprozesse wie die Entwicklung und des Fortschreitens bei Osteoarthritis untersucht werden (1).

Mithilfe der iPSC-Technologie wurden aus menschlichen Zellen Herzmuskelzellen gezüchtet, mit welchen dann ebenfalls im All experimentiert wurde. Nach Rückkehr zur Erde können dann die Zellen von der Erde und diese, die eine Zeitlang im Weltraum verbracht haben, verglichen werden. So kann festgestellt werden, wie die Gravitationsabstinenz Herzzellen beeinflusst.

Da Astronauten ca. 20 % ihrer Muskelmasse in zwei Wochen Schwerelosigkeit verlieren, sind Forschungen an Muskeln prioritär für die Raumfahrt. Zum Vergleich: Auf der Erde verliert ein Mensch über 35 Jahre im Jahr 1-2 %. Zwar ist intensives Muskeltraining an speziellen Geräten Pflicht für jeden Astronauten, aber selbst intensive Trainingseinheiten können den Muskelabbau nicht komplett ausgleichen. So wurden Muskelbiopsien von jüngeren und älteren Probanden genommen und in einen sogenannten CubeLab™ (6) integriert.

iss timeline parafati 2023
Abbildung: Zeitleiste des Experimentalflugs. 1. Gewebechips wurden mit Muskelzellen besiedelt, 2. mit einer Spritzenpumpe vordifferenziert, 3. in das CubeLab™ geladen und 4. mit zur ISS gestartet. Start des Experiments. 5. Aufnahme der Muskelbündel. 6. Kamerasystem 7. CubeLab im Stauraum nach Beendigung der Experimente. Aus Parafati et al. 2023

Dies ist quasi ein automatisches Mini-Labor: In der kastenförmigen Vorrichtung wird der Chips installiert und an ein System angeschlossen, das kontinuierlich Nährlösung für die Gewebe abgibt, damit diese am Leben erhalten werden. Auch sind Kameras angeschlossen, die regelmäßig Aufnahmen der Muskelproben machen. All dies wird nach einem vorinstallierten Programm gesteuert. Das Experiment läuft also autonom ab und sammelt permanent Daten. Parallel werden auf der Erde Muskelproben der gleichen Probanden nach dem gleichen Protokoll behandelt, sodass die Ergebnisse verglichen werden können. In diesem Experiment konnten Gene identifiziert werden, die an der Proteinmodifikation, dem Signalempfang und dem Stoffwechsel beteiligt sind und deren Expression im All verändert ist. Insbesondere wurde eine Herabregulierung von Genen festgestellt, die für skelettspezifische Strukturproteine kodieren, was auf eine beeinträchtigte Muskelausbildung hinweist.

Diese Chipsysteme können mit sämtlichen anderen Geweben und Organoiden ausgestattet werden. Sie sind allerdings nicht automatisch tierversuchsfrei, da diese auch mit Zellen von Tieren bestückt sein können. Dies ist nicht sehr verbreitet, eben weil mit der Verwendung von menschlichen Zellen die Speziesunterschiede umgangen werden und das Forschungsinteresse auf humanrelevante Ergebnisse ausgerichtet ist. Wie groß das Potenzial dieser Chipsysteme ist, lässt sich schon aus dem Fakt ableiten, dass diese zur ISS geflogen werden – jedes Gramm ist genau kalkuliert und es wird streng abgewogen, was mit der Rakete nach oben geschickt wird. Nur die vielversprechendsten Technologien kommen in den Himmel – wie eben die humanbasierten Chipsysteme.

06.08.2024
Dipl. Biol. Julia Radzwill

*Legende

  • CASIS: Center for the Advancement of Science in Space (ein Zentrum zur Weiterentwicklung/Förderung der Wissenschaft im Weltraum), jetzt ISS National Lab
  • ISS: International Space Station (Internationale Raumstation)
  • NASA: National Aeronautics and Space Administration (Nationale Aeronautik- und Raumfahrtbehörde der USA)
  • NCATS: National Center for Advancing Translational Science (Nationales Zentrum zur Weiterentwicklung/Förderung der translationalen Wissenschaft in den USA)
  • NIH: National Institutes of Health (US-Gesundheitsbehörde)

 

 

Quellen

  1. Yau A. et al. Biosensor integrated tissue chips and their applications on Earth and in space. Biosensors and Bioelectronics 2023; 222:114820
  2. Tavakol D.N. et al. Modeling and countering the effects of cosmic radiation using bioengineered human tissues. Biomaterials 2023; 301:122267
  3. National Institutes of Health National Institutes of Health (NIH): NIH-funded tissue chips rocket to International Space Station, 4.12.2018 (abgerufen am 6.8.2024)
  4. National Center for Advancing Translational Sciences Tissue Chips in Space (abgerufen am 6.8.2024)
  5. ISS National Laboratory Next Mission to Space Station Will Launch a Variety of Biomedical and Physical Science Research (abgerufen am 6.8.2024)
  6. Parafati M. et al. Human skeletal muscle tissue chip autonomous payload reveals changes in fiber type and metabolic gene expression due to spaceflight. npj Microgravity 2023; 9(1):1–11