Schlaganfall: Tierversuche und tierversuchsfreie Forschung
Warum Schlaganfallstudien an Tieren nicht funktionieren
Die Erkrankung
Bei einem Schlaganfall kommt es „schlagartig“ zu einer Durchblutungsstörung im Gehirn, was zu einem Absterben von Hirngewebe führt und damit zu Ausfällen von Körperfunktionen wie z.B. Lähmungen. Das Absterben von Gewebe kann durch eine Mangeldurchblutung, z.B. Verstopfen eines Blutgefäßes, oder durch Hirnblutungen ausgelöst werden. Der Schlaganfall ist die häufigste Ursache für erworbene Behinderungen im Erwachsenenalter und ein Drittel der Schlaganfall-Patienten verstirbt innerhalb eines Jahres (1).
Bisher gibt es nur eine wirksame Therapie – die Auflösung von Blutgerinnseln mittels rt-PA (rekombinanter gewebsspezifischer Plasminogenaktivator), doch nur 80-85% der Schlaganfälle werden durch einen Gefäßverschluss ausgelöst (sog. ischämischer Schlaganfall). D.h. die übrigen Patienten mit einem blutungsbedingten Schlaganfall können damit nicht behandelt werden. Zudem muss rt-PA innerhalb von 4,5 Stunden verabreicht werden, um wirksam zu sein. Aufgrund dieser Einschränkungen ist die Behandlung mit rt-PA nur bei ca. 5% der Patienten anwendbar (2).
Die Suche nach neuen Therapien, insbesondere sogenannten Neuroprotektiva (das Nervengewebe schützende Medikamente), hat daher bisher zu über 4.000 Publikationen geführt, in denen die neuroprotektiven Eigenschaften von mehr als 700 Medikamenten in Tierversuchen scheinbar nachgewiesen werden konnten (3). Andere Studien sprechen von bis zu 1.000 an Tieren getesteten Behandlungsmethoden, die aber beim Menschen nicht die gewünschte Wirkung hatten (4). Seit der Zulassung von rt-PA für die Behandlung des Schlaganfalls 1996 gab es also keine nennenswerten Fortschritte, obwohl seit über 150 Jahren der Schlaganfall in „Tiermodellen“ erforscht wird (5).
Sogenannte Tiermodelle
Mit Abstand am häufigsten werden die Versuche an Ratten durchgeführt, jedoch auch an Mäusen, Katzen, Hunden, Schweinen, Affen (6, 7) und sogar Fischen (7). Ratten werden für die Forschung vor allem deshalb verwendet, weil sie einfach und billig in der Haltung und leicht genetisch zu manipulieren sind.
Seit den 70er Jahren werden immer neue „Tiermodelle“ entwickelt, bei denen durch den Verschluss einer hirnversorgenden Arterie künstlich ein Schlaganfall ausgelöst wird. Die Sterblichkeitsrate (Mortalität) kann dabei bis zu 40% betragen; einzelne Studien berichten sogar von Mortalitätsraten bis zu 85% (6).
Viele „Tiermodelle“ erfordern die Eröffnung des Schädels (Kraniotomie): Nach der Kraniotomie wird eine der hirnversorgenden Arterien (meist die mittlere Hirnarterie) freigelegt und durch Einschwemmen von Blutgerinnseln oder kleinen Kügelchen (thrombembolisches Modell), durch elektrischen Strom (Elektrokoagulationsmodell) oder durch Einspritzen von Endothelin-1 (ein Hormon, das die Verengung von Blutgefäßen bewirkt) verschlossen bzw. verengt.
Die Elektrokoagulationsmethode kann bei Ratten zu Kieferproblemen führen, die eine Umstellung auf weiches Futter erforderlich macht. Dies wiederum führt zum unkontrollierten Wachstum der Zähne, die dann regelmäßig abgeschliffen werden müssen (8), eine zusätzliche physische und psychische Belastung der Tiere.
Mit besonders schwerem Leid für die Tiere verbunden ist das Endothelin-1-Modell, denn hierbei wird eine Vinylkanüle (ein Plastikröhrchen) durch ein Bohrloch in den Schädel eingebracht. Diese Kanüle wird eingenäht und dort für einige Tage belassen. Dann wird den Tieren über das Röhrchen Endothelin-1 gespritzt und sie erleiden bei vollem Bewusstsein einen Schlaganfall (9, 10). Die Mortalität beträgt bis zu 15% (8).
Doch auch die Modelle, bei denen keine Eröffnung des Schädels erfolgt, stellen eine erhebliche Belastung für die Tiere dar und sind mit Schmerzen verbunden. Beim sogenannten intraluminalen Fadenmodell wird über die Halsarterie ein chirurgischer Faden in die mittlere Hirnarterie (MCA) geschoben, bis diese durch den Faden verstopft wird. Der Faden wird je nach Fragestellung für 30 Minuten bis zu mehreren Stunden dort belassen. Dadurch wird ein großer Gewebebereich im Gehirn nicht mehr durchblutet und ausreichend mit Sauerstoff versorgt. Nicht selten kommt es bei den Tieren zu Hirnblutungen, Überhitzung und vor allem zu Todesfällen infolge des ausgedehnten Schlaganfalls (11, 12).
Beim photochemischen Modell wird nach der Injektion eines lichtsensiblen Farbstoffs der Schädel bestrahlt. In der Folge verklumpen sich die Blutplättchen zu einem Gerinnsel, der das Gefäß verschließt. In anderen Modellen wird die Arterie durch Clips, Haken, Abbinden, Manschetten oder durch das Einspritzen von Thrombin (einem Gerinnungsfaktor) verschlossen (8).
Trotzdem diese Modelle immer weiterentwickelt worden sind, geben selbst Wissenschaftler zu, die an Tieren forschen, dass kein einziges „Tiermodell“ die Situation eines Schlaganfallpatienten vollständig imitieren kann (6, 11, 12, 13, 14).
Medikamententests
Die Schlaganfallmodelle werden nicht nur genutzt, um feingewebliche, physiologische und biochemische Vorgänge dieser Erkrankung zu erforschen, sondern auch um neue neuroprotektive (das Hirn schützende) Medikamente zu testen. Bisher hat jedoch keines der im Tierversuch erfolgreich getesteten Medikamente beim Menschen gewirkt. Viele Medikamente erweisen sich im klinischen Versuch mit Patienten als nicht wirksam; nicht selten aber mussten die klinischen Studien abgebrochen werden, weil die im Tierversuch als sicher eingestuften Medikamente zu unerwünschten, teils gefährlichen Nebenwirkungen bei den Patienten führen oder das Endergebnis nach einer Erkrankung (z.B. den Grad der Behinderung nach dem Schlaganfall) sogar verschlechtern.
Klinische Studien mit den neuen Wirkstoffen Selfotel und Aptiganel mussten abgebrochen werden, da die Mortalität unter den mit dem Medikament behandelten Patienten höher war als in der Placebogruppe (d.h. eine Gruppe von Patienten, die ein Scheinmedikament erhielt) (15, 16). Unter Selfotel litten die Patienten zudem unter Halluzinationen, Verwirrung und Bewusstseinstrübungen bis hin zum Koma (15). Eine andere Studie mit Albumin ergab bei den damit behandelten Patienten ein 2,4 Mal höheres Risiko, eine Hirnblutung zu erleiden; häufigste Nebenwirkung war ein Lungenödem (Ansammlung von Flüssigkeit in der Lunge) (17).
Gründe für die bisher erfolglose Schlaganfallforschung
Schlechte Studienqualität:
Die Qualität von Tierversuchs-Studien ist insgesamt schlecht (4, 18, 19, 20, 21). Wichtige Qualitätsmerkmale für medizinische Studien sind zum einen die zufällige Aufteilung der Patienten auf die verschiedenen Gruppen, um eine voreingenommene Auswahl und somit Messfehler zu verhindern (sog. Randomisierung) sowie die Verblindung, d.h. Patienten und/oder die Untersucher wissen nicht, welches Medikament sie erhalten (so wird verhindert, dass die einzelnen Gruppen unterschiedlich bewertet werden, je nach Erwartung oder Hoffnung der Untersucher). Doch nur 36 % der Tierversuchs-Studien sind randomisiert und 29 % verblindet (22). Deshalb werden Medikamente und andere Therapieansätze fälschlicherweise als wirksam eingestuft oder Nebenwirkungen falsch bewertet.
Beispielsweise sind bisher über 100 Studien zur Kältebehandlung (Hypothermie) von Schlaganfallpatienten veröffentlicht und mehr als 3.000 Tiere sind für die Forschung „verbraucht“ worden (23). Um die Hirnschäden bei einem Schlaganfall möglichst gering zu halten, soll die Körpertemperatur der Patienten bis auf weniger als 35°C heruntergekühlt werden. Obwohl Tierversuche eine positive Wirksamkeit der Hypothermie „bestätigten“, konnte dies in klinischen Studien nicht nachgewiesen werden (24).
Unterschiede zwischen „Tiermodellen“ und Patienten:
Die im Labor verwendeten Tiere sind i.d.R. jung und haben keine Vorerkrankungen bzw. Risikofaktoren, während Schlaganfall-Patienten typischerweise zwischen 60 und 70 Jahre alt sind und unter einer oder mehreren Vorerkrankungen (Gefäßverkalkung, Bluthochdruck, Diabetes, Übergewicht, erhöhte Blutfettwerte etc.) leiden. Schlaganfall-Patienten sind also viel komplexer als es Tiermodelle jemals sein können (25). Auch Geschlecht, Alter und genetische Faktoren spielen eine wichtige Rolle beim Schlaganfall (und bei anderen Erkrankungen).
Zwar gibt es mittlerweile „Tiermodelle“, denen einzelne Risikofaktoren angezüchtet worden sind (z.B. spontan hypertensive Ratten, ApoE-defiziente Mäuse) (8), jedoch sind diese Tiere im Gegensatz zu Schlaganfall-Patienten genetisch manipuliert und werden künstlich krank gemacht (z.B. werden die Nierenarterien abgeklemmt, um einen Bluthochdruck auszulösen). Dies ist mit dem komplexen Krankheitsverlauf eines Menschen nicht vergleichbar (5), bei dem sich eine blutzucker- oder bluthochdruckbedingte Gefäßverkalkung über Jahre, teilweise Jahrzehnte, entwickelt. Viele Patienten nehmen zudem Medikamente ein, die das Schlaganfallrisiko, die Heilungschancen und die Reaktion auf die Schlaganfall-Behandlung beeinflussen.
Weiterhin bestehen zahlreiche anatomische Unterschiede: Das menschliche Hirn hat zum Beispiel einen viel größeren Anteil an weißer Substanz (der Anteil des Hirns, in dem die Nervenzellfortsätze liegen) als das Hirn von Nagern (10% vs. 50% (26, 11)), was vor allem dann eine Rolle spielt, wenn Medikamente getestet werden, die speziell auf die weiße bzw. die graue Substanz (der Anteil des Hirns, in dem die Nervenzellkörper liegen) wirken.
Die Blutversorgung des Gefäßrings funktioniert beim Tier hauptsächlich über die Halsschlagader, beim Menschen aber zusätzlich über die Wirbelarterie (A. vertebralis) (27).
Auch wenn diese Unterschiede minimal erscheinen, können in hochkomplexen Organismen wie Menschen und Tieren bereits winzige, scheinbar vernachlässigbare Unterschiede dramatische Auswirkungen haben (25). Von Bedeutung sind solche Unterschiede beispielsweise, wenn es um Umgehungskreisläufe geht (d.h. Gefäße, die die Versorgung einer Hirnregion übernehmen, wenn eine andere Arterie verschlossen ist) oder auch bei chirurgischen Zugangswegen und Behandlungsmethoden. Neben Unterschieden zwischen Mensch und Tier (s.o.), existieren auch Unterschiede innerhalb einer Tierart. Verschiedene Studien konnten sogar Unterschiede zwischen einzelnen Ratten- und Mäusezüchtungen feststellen (28, 29).
Unterschiedliche Messwerte:
Im Tierversuch wird zur Erfolgskontrolle i.d.R. das Infarktareal, d.h. der Bereich mit dem geschädigten Hirngewebe gemessen. Dabei wird eine Verringerung der Infarktgröße nach Gabe des Medikaments als Erfolg gewertet. In klinischen Studien am Patienten werden hingegen verschiedene funktionelle Werte gemessen, insbesondere mit Hilfe von Bewertungsskalen, mit denen beurteilt werden kann, welche Einschränkungen der Patient seit dem Schlaganfall hat und wie er im Alltag damit zurechtkommt (23, 26).
Die Verkleinerung des Infarktareals bedeutet nicht gleichzeitig eine Verbesserung der neurologischen Ausfälle (z.B. Lähmungen, Gefühlsstörungen, Sprach- und Gedächtnisstörungen) (26). Ebenso wenig ist ein großer Infarkt gleichbedeutend mit schweren neurologischen Defiziten; entscheidender ist die Lokalisation (beispielsweise kann ein Miniinfarkt im Hirnstamm zum Tod führen).
Viele wichtige neurologische Funktionen können am Tier nicht getestet werden, beispielsweise Sprach- oder Gedächtnisstörungen, unter denen viele Schlaganfall-Patienten leiden (5) oder auch Persönlichkeitsveränderungen. Um dieses Defizit auszugleichen, wenden einige Forscher verschiedene Verhaltenstests (s.o.) bei den „Versuchstieren“ an. Ein bekanntes Beispiel ist das sogenannte Morris-Wasserlabyrinth: Dabei wird das Tier (i.d.R. eine Ratte) in einen mit trübem Wasser gefüllten Behälter gesetzt, an dessen Wänden Markierungspunkte angebracht sind. Nicht sichtbar unter der Wasseroberfläche befindet sich eine Plattform, die die Ratte anhand der Orientierungspunkte finden soll. Damit soll u.a. das Gedächtnis getestet werden (26). Zur Überprüfung von Koordination und Bewegungsfähigkeit dienen u.a. der Grid Walking Test (die Tiere müssen auf horizontalen Leitern balancieren und die Untersucher messen die Anzahl der Fehltritte) oder auch der Wire oder Grid Hanging Test. Dabei wird z.B. eine Maus mit den Pfoten an ein Gitter oder einen Draht gehängt. Dann wird die Zeit gestoppt, bis das Tier sich nicht mehr halten kann und herunterfällt (30).
Ausnahmslos alle diese Tests sind abhängig von der Compliance (d.h. der „Mitarbeit“) der Versuchstiere, die angezweifelt werden darf, wenn man bedenkt, dass das Leben dieser Tiere i.d.R. von Schmerzen, Isolation, Langeweile und Angst geprägt ist und die Forscher die Tiere für einige dieser Tests vorher hungern lassen, um die Kooperation zu fördern. Ob eine Ratte im Morris-Wasserlabyrinth länger braucht, um die Plattform zu finden, weil ihre Fähigkeiten durch den Schlaganfall eingeschränkt sind oder weil sie verängstigt ist, Schmerzen oder ganz einfach keine Lust hat, kann niemand beurteilen.
Unterschiedliche Zeitfenster und Dosierungen:
Um toxische Wirkungen zu vermeiden, bekommen die Patienten im klinischen Versuch i.d.R. viel geringere Dosierungen des Testmedikaments, wobei diese zwischen einzelnen Studien stark variieren. Eine Dosierung, die beim Tier effektiv war, muss nicht zwangsläufig für Patienten angemessen sein (26). Möglicherweise vertragen Menschen viel höhere Dosierungen als Ratten oder aber auch viel niedrigere.
Im Tierversuch werden die getesteten Medikamente zudem oft vor (!) oder während des Schlaganfalls gegeben. Der Sinn solcher Studien darf angezweifelt werden, da diese Zeitfenster im klinischen Alltag nicht realisierbar sind und z.T. hellseherische Fähigkeiten der Ärzte voraussetzen.
Ein Schlaganfall-Patient muss zwar so schnell wie möglich behandelt werden, jedoch kann dies nicht geschehen bis die Diagnose gesichert wurde. Dazu ist i.d.R. eine Bildgebung erforderlich, um zwischen Sauerstoffmangel- und blutungsbedingtem Schlaganfall zu unterscheiden (denn die Therapien sind unterschiedlich) bzw. andere Ursachen für die Symptome auszuschließen. Dies erfordert Zeit.
Während im Tierversuch den Tieren das Testmedikament im Schnitt zehn Minuten nach Auslösung des Schlaganfalls (Bandbreite 60 Minuten vor (!) bis 360 Minuten danach) verabreicht wird (31), vergehen in klinischen Studien durchschnittlich 12 Stunden bis zur Aufnahme der Patienten in eine Studie, d.h. bis zum Beginn der Behandlung (32). Im Fall der Hypothermiebehandlung wurde im Tierversuch nach durchschnittlich 0 Minuten (!) mit der Kühlung begonnen, also unmittelbar nach Auslösung des Schlaganfalls. Die beste Wirksamkeit der Hypothermie fand sich bei Behandlungsbeginn vor bzw. während des Gefäßverschlusses. Solche Zeiten können im klinischen Alltag nicht eingehalten werden, da zum einen durch Transport, Diagnostik und Erstbehandlung einige Zeit vergeht und zum anderen die Kühlung bei einem Menschen ca. 4 Stunden dauert, bei einer Ratte aber nur ungefähr 20 Minuten (23).
Tierversuchsfreie Forschung
Aufgrund dieser vielfältigen Unterschiede und Limitierungen der Tier„modelle“ ist es wenig überraschend, dass wichtige Erkenntnisse in Bezug auf Schlaganfälle vor allem durch Bevölkerungs-, Patientenstudien oder Obduktionen gewonnen wurden. Auch heutzutage sind diese Forschungsbereiche von großer Relevanz. Hinzu kommen tierversuchsfreie humanbasierte Forschungsmodelle (oft als „Alternativmethoden“ zusammengefasst), die in der Schlaganfallforschung immer mehr Bedeutung erlangen.
Besonders interessant sind mikrofluidische Systeme, auch Organ-on-a-Chip oder Multi-Organ-Chip genannt. Hier handelt es sich um chipkartengroße Vorrichtungen mit verschiedenen Containern und Durchflussstrukturen, in denen Zellen oder Mini-Organe (Organoide) kultiviert werden, welche aus menschlichen Zellen gezüchtet wurden. Die Zellen wiederum können von gesunden oder kranken Menschen stammen, sodass man so sehr gut die Unterschiede und krankheitstypischen Mechanismen erforschen kann. Auch können potenzielle Medikamente zugegeben werden, wodurch man untersuchen kann, ob die „erkrankten“ Systeme auf die Medikamente anschlagen oder nicht.
Bei einem Schlaganfall ist die Funktion des Gefäßsystems des Gehirns beeinträchtigt. Für ein besseres Verständnis der Mechanismen wurde ein komplexes menschliches In-vitro-Modell hergestellt: eine Plattform, die die parallele Kultivierung von 40 Chips ermöglicht. Das Modell besteht aus einem durchbluteten Gefäß mit primären menschlichen Hirngefäßzellen (Endothelzellen) in Co-Kultur mit bestimmten Nervenzellen (Astrozyten und Neuronen), hergestellt aus iPSCs (induzierte pluripotente Stammzellen)*. Der ischämische Schlaganfall wurde mit einem dreifachen parallelen Ansatz nachgeahmt: per chemischer Hypoxie (verminderter Sauerstoffgehalt), per Hypoglykämie (verminderter Blutzuckergehalt) und mittels unterbrochener Perfusion. Unter diesen Bedingungen, die einen Schlaganfall nachahmen, zeigten die Hirnendothelzellen eine stark reduzierte Barrierefunktion. Dies ist vergleichbar mit der bei einem Schlaganfall zu beobachtenden veränderten Funktionsleitung der Blut-Hirn-Schranke. Die Ergebnisse zeigen, dass das Modell für grundlegende Studien der Ursachen von Schlaganfall, für die Untersuchung potenzieller Therapien sowie aufgrund seiner möglichen Automatisierung für das Screening von Wirkstoffen von Nutzen ist (33).
a) OrganoPlate Plattform, bestehend aus 40 Chips b) Unterseite der Plattform c) 3D-Rekonstruktion des Modells, links Gefäß aus Hirnendothelzellen auf extrazellulärer Matrix in Co-Kultur mit Netzwerken von Astrozyten. Wevers N.R. et al. 2021
Eine andere Art der Nachbildung der Blut-Hirn-Schranke auf einem Chip gibt es bspw. von der Vanderbilt University in Nashville.
Blut-Hirn-Schranken-Chip der Vanderbilt Universität, Nashville, Tennessee, USA. Die blaue Flüssigkeit zeigt den Weg der Hirnzellen und die rote die Blutzirkulation. Vanderbilt University/Wikimedia Commons.
Zusammen mit anderen für die Schlaganfallforschung wichtigen menschlichen Organsystemen, wie Nerven- bzw. Gehirnzellen, Blutgefäßen und Immunsystem kann die Blut-Hirn-Schranke auf einem Multi-Organ-Chip mit einem Kanalsystem untereinander verbunden werden (34).
Besondere Steuerelemente der Chips, die schon standardmäßig genutzt werden, ermöglichen Veränderungen in beispielsweise Temperatur, pH-Wert, Blutdruck, Sauerstoff- und Blutzuckergehalt (35).
Forschung mittels einzelner Organoide ist ebenfalls möglich: In einer Studie wurde ein humanes organoides Modell mit sechs Zelltypen für neurovaskuläre Einheiten (funktionelle Verbindung von Nerven und Gefäßen im Zentralen Nervensystem) entwickelt, das für das Neurotoxizitätsscreening und die Krankheitsmodellierung verwendet werden kann. Menschliche mikrovaskuläre Endothelzellen des Gehirns und verschiedene Gehirn-Nervenzellen (Perizyten, Astrozyten, Oligodendrozyten, Mikroglia und Neuronen) wurden aus Primärmaterial (Gewebeproben von Patienten) gewonnen oder aus iPSCs* differenziert. Die sechs Zelltypen wurden in vitro zu einem 3D-Organoid zusammengesetzt, das dann unter Hypoxiebedingungen kultiviert wurde, um einen Schlaganfall zu simulieren. Die Forscher maßen die Veränderungen in der Bildung von Proteinen, die für die Aufrechterhaltung der Blut-Hirn-Schranke entscheidend sind. Auch die Sekretion und Wirkung von Entzündungsmediatoren wurde untersucht. Die hypoxiebedingten Veränderungen konnten durch Medikamente, die bekanntermaßen auf Hypoxie-Stress und Entzündungen wirken, verringert werden, wodurch das Modell validiert wurde. Somit ist das neurovaskuläre Sphäroid ein geeignetes Modell für die Nachahmung von Pathologien des Gehirns wie Hypoxie und ermöglicht die In-vitro-Prüfung und Entwicklung neuartiger Therapien für Erkrankungen des zentralen Nervensystems (36).
Prävention
Die meisten Schlaganfälle könnten übrigens durch gesündere Lebensweise verhindert werden. Insbesondere der Verzicht auf rotes und/oder verarbeitetes Fleisch bzw. allgemein tierisches Fett ist ein guter gesundheitlicher Hebel, den jeder in seiner Selbstverantwortung bedienen kann (37, 38). Dieser Fokus auf Prävention kommt in der Schlaganfallforschung leider immer noch zu kurz.
Fazit
Gründe für die erfolglosen Versuche, Ergebnisse aus dem Tierversuch auf den Patienten zu übertragen sind u.a. die z.T. erschreckend schlechte Qualität der Tierversuchsstudien, die signifikanten und nicht überbrückbaren Unterschiede zwischen Patient und „Versuchs“tier bezüglich Anatomie, Physiologie und Vorerkrankungen, uneinheitliche und verschiedene Beurteilung der Ergebnisse sowie unterschiedliche Zeitfenster und Dosierungen in Tierversuchs- und klinischen Studien. Dem gegenüber stehen moderne, tierversuchsfreie Forschungsmethoden, die mit menschlichen Zellen arbeiten und Ergebnisse zeigen, die mehr als vielversprechend sind – ohne Tierleid, zugunsten der Wissenserweiterung und der Erforschung menschlicher Erkrankungen.
* Heutzutage kann man jede Körperzelle, die schmerzfrei einer freiwilligen Person entnommen werden kann, durch ein spezielles Verfahren auf Stammzellniveau zurückprogrammieren (= induzierte pluripotente Stammzelle oder induced pluripotent stem cell, iPSC) und sie durch spezifische Nährstofflösungen dazu bringen, sich in verschiedene Körperzellen zu entwickeln (z.B. Gehirn-, Herz- oder Blutgefäßzellen).
15.10.2018
Stephanie Gräwert, Ärztin
Kapitel „Tierversuchsfreie Forschung“ ergänzt am 17.05.2023
Julia Radzwill, Dipl.-Biol.
Quellen
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