Fragwürdige Pro-Tierversuchskampagne geplant
- Pressemitteilung
Wissenschaftslobby bereitet massiven PR-Schub gegen Reduktionsstrategie vor
Im Vorfeld des Internationalen Tags zur Abschaffung der Tierversuche am 24. April wurde dem bundesweiten Verein Ärzte gegen Tierversuche (ÄgT) anonym ein internes Schreiben zugespielt, in dem zu einer groß angelegten, einseitigen Pro-Tierversuchskampagne aufgerufen wird. Hinter der Kampagne stehen hochrangige Vertreter der akademischen Tierversuchsforschung, unterstützt wird die Aktion vom Vorstand der Deutschen Neurowissenschaftlichen Gesellschaft. Ziel der Aktion ist es offenbar, in der Öffentlichkeit gezielt Stimmung für Tierversuche zu machen – zeitlich abgestimmt auf die geplante Veröffentlichung der Reduktionsstrategie des Bundesinstituts für Risikobewertung (Bf3R).
In der öffentlichen Debatte stellen sich akademische Tierversuchsforscher gern als neutral, sachlich und unpolitisch dar. Mitglieder von Tierschutzorganisationen hingegen werden regelmäßig als „Lobbyisten“ und „Aktivisten“ diffamiert. Die nun vorliegenden Dokumente zeigen ein ganz anderes Bild. Statt wissenschaftlicher Aufklärung wird hier eine gezielte, strategisch kalkulierte Lobbykampagne verfolgt. Besonders fragwürdig ist das geplante Kampagnen-Cover, das an das ikonische Stern-Cover „Wir haben abgetrieben“ aus den 1970er Jahren angelehnt ist. „Dass akademische Wissenschaftler eine Kampagne kopieren, mit der Frauen für das Grundrecht kämpften, über ihren eigenen Körper entscheiden zu können und dass diese nun instrumentalisiert werden soll, um den Status quo veralteter, leidbehafteter Forschungsmethoden zu sichern, ist anmaßend und geschmacklos“, so Dr. Melanie Seiler, Primatologin und Geschäftsführerin für Öffentlichkeitsarbeit und Politik bei ÄgT.
Besonders irritierend: Die Kampagne spielt sich auf dem Rücken des Grundgesetzes ab. Das geplante Titelmotiv bezieht sich plakativ auf Artikel 5 GG („Freiheit von Wissenschaft und Forschung“), als ob damit ein Freibrief für Tierversuche verbunden sei. Doch die grundgesetzlich verankerte Forschungsfreiheit rechtfertigt keine pauschale Tiernutzung – sie gilt im Rahmen bestehender Gesetze, insbesondere des Tierschutzgesetzes und der EU-Tierversuchsrichtlinie. Diese verpflichten dazu, Tierversuche nur durchzuführen, wenn es keine entsprechenden tierfreien Forschungsmethoden gibt.
Wissenschaftler wie Prof. Thomas Hartung, langjähriges Mitglied mehrerer deutscher Fachgesellschaften, haben sich bereits öffentlich distanziert: „Ich war seit 1990 Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Biochemie und Molekularbiologie. Heute habe ich meine Mitgliedschaft beendet, nachdem sie sich einer sehr einseitigen Kampagne für Tierversuche angeschlossen haben“, erklärte Hartung am 09.04.2025 auf LinkedIn.
Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) plant gemeinsam mit dem Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR), zeitnah eine Strategie zur Reduktion von Tierversuchen zu veröffentlichen – ein Vorhaben, das im Koalitionsvertrag von 2021 ausdrücklich vorgesehen war. Die Reduktionsstrategie wurde in einem breit aufgestellten Stakeholderprozess unter Beteiligung von Wissenschaft, Industrie und Tierschutzverbänden erarbeitet – auch ÄgT war daran beteiligt. Das Ziel war ein ausbalancierter Kompromiss, der sowohl der Wissenschaft als auch dem Tierschutz gerecht werden sollte.
Statt sich an diesem demokratischen Dialog zu beteiligen, versucht die Tierversuchslobby nun offenbar, die Strategie der Bundesregierung öffentlich zu diskreditieren. Die nun vehemente und polemisierende Kritik des Kampagnenleiters an der Tierversuchs-Reduktionsstrategie der Bundesregierung ist umso kritischer zu sehen, als er als Stakeholder selbst in deren Entwicklung involviert war.
„Eine derartige Mobilisierung von Forschenden, die im öffentlichen Dienst stehen – viele davon verbeamtet – für eine einseitige, ideologisch motivierte Kampagne ist ein besorgniserregender Missbrauch öffentlicher Gelder“, so Dr. Tamara Zietek, Geschäftsführerin Wissenschaft bei ÄgT. „Aus der uns zugespielten E-Mail geht hervor, dass gezielt gegen die Reduktionsstrategie der Bundesregierung gewettert und die akademische Wissenschaftswelt dagegen aufgehetzt wird. Das ist respektlos dem BfR und dem BMEL gegenüber, die bemüht sind, alle Stakeholder bei der Entwicklung der Reduktionsstrategie miteinzubeziehen.“
Der Kampagnenleiter weist in seiner E-Mail darauf hin, dass sowohl die Neurowissenschaftliche Gesellschaft (NWG) als auch die Allianz der Wissenschaftsorganisationen (WO) sich klar von der Reduktionsstrategie distanzieren. Die WO ist im Lobbyregister des Bundestags gelistet und tritt seit Jahrzehnten als politisch einflussreiche Interessenvertretung für Tierversuche auf. Zu der WO gehören u.a. die Deutsche Forschungsgemeinschaft und der Wissenschaftsrat sowie die Hochschulrektorenkonferenz – Organisationen, die wissenschaftliche Objektivität wahren und eine solch ablehnende Haltung gegenüber einer Bundesstrategie zur Reduktion von Tierversuchen nicht unterstützen sollten.
Diese Vorgänge werfen aus Sicht von ÄgT ein Schlaglicht auf ein strukturelles Problem: In Teilen der akademischen Welt gelten Tierversuche weiterhin als Goldstandard – sie bringen Publikationen, Fördermittel und Prestige. Im Gegenzug werden moderne humanrelevante Forschungsmethoden wie Organoide oder 3D-Zellkulturen von Seiten der Forscher, die noch auf Tierversuche setzen, fernab der wissenschaftlichen Faktenlage abgewertet – mit Begriffen wie „Zellhaufen“ oder „ergänzende Modelle“.
ÄgT fordert die WO, sowie alle an der Pro-Tierversuchs-Kampagne beteiligten Wissenschaftler auf, sich konstruktiv am Dialog zur Reduktionsstrategie zu beteiligen – gemeinsam mit den vielen Forschenden, NGOs und Vertretern aus Industrie und Behörden, die sich sachlich für eine verantwortungsvolle und zukunftsfähige Wissenschaft einsetzen.
Weitere Infos
Unterlagen können auf Anfrage herausgegeben werden.
Ungewöhnlicher Protest - Wieso Forscher eine Pro-Tierversuche-Kampagne starten wollen. FAZ, 15.04.2025