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Mit Organoiden lassen sich kognitive Prozesse ohne Tierversuche untersuchen

Die Zahl der Menschen mit Entwicklungsstörungen des Gehirns, wie etwa Autismus-Spektrum-Störungen (ASS), nimmt zu, was zu einem großen Teil auf Veränderungen im Lebensstil und Umweltbelastungen zurückzuführen ist. Gehirn-Organoide ermöglichen es Forschern, die menschliche Gehirnentwicklung detailliert nachzubilden. So können sie untersuchen, wie Umweltfaktoren wie Giftstoffe und Medikamente die Entwicklung der Nervenzellen stören und die kognitiven Funktionen beeinflussen. Dieser Ansatz wurde kürzlich von Prof. Thomas Hartung vom Center for Alternatives to Animal Testing (CAAT) in einem Übersichtsartikel erläutert, den wir hier zusammenfassen.

Die Entwicklung des menschlichen Gehirns ist ein komplexer Prozess, der bereits vor der Geburt beginnt und bis ins frühe Erwachsenenalter anhält. Aufgrund dieses langen und komplizierten Entwicklungsverlaufs ist das menschliche Gehirn besonders anfällig für Umwelteinflüsse wie chemische Schadstoffe. Traditionell werden zur Untersuchung der Gehirnentwicklung Tierversuche eingesetzt. Dabei erhalten beispielsweise schwangere Mäuse bestimmte Substanzen, um zu beobachten, wie sich diese auf die Gehirnentwicklung ihrer Nachkommen auswirken. Allerdings können Tierversuche menschliche biologische Prozesse aufgrund von Unterschieden zwischen den Arten nicht genau abbilden. Auch einfache Zellkulturen, in denen Zellen nur in einer flachen Schicht wachsen, sind nicht geeignet, da ihnen die komplexen Interaktionen fehlen, die in einem Gehirn vorkommen.

Gehirn-Organoide

Gehirn-Organoide sind winzige, im Labor gezüchtete Modelle des menschlichen Gehirns, die dabei helfen, die Entwicklung und Funktion des Denkorgans besser zu verstehen. Sie entstehen aus speziellen Stammzellen, die durch eine Mischung von Wachstumsfaktoren dazu angeregt werden, sich zu Gehirnzellen zu entwickeln. Diese Wachstumsfaktoren ahmen die Signale nach, die auch bei der Entwicklung des Gehirns im Embryo vorkommen.

Die Organoide wachsen in einer dreidimensionalen Struktur und bilden eigenständig Zelltypen und Schichten, die den Aufbau des menschlichen Gehirns nachahmen. Dadurch lassen sich an ihnen die Entwicklung von Gehirnstrukturen und die Vernetzung der Nervenzellen beobachten – ein Prozess, der bisher nur schwer erforscht werden konnte.

Solche Gehirn-Organoide bieten zudem die Möglichkeit, die Auswirkungen von Umweltgiften, Nährstoffen und genetischen Veränderungen direkt an menschlichen Zellen zu untersuchen. So können Wissenschaftler besser verstehen, wie sich solche Faktoren auf die menschliche Gesundheit auswirken. Indem Stammzellen von einzelnen Patienten verwendet werden, können Forscher sogar personalisierte Gehirn-Organoide herstellen, die eine Art „lebende Biopsie“ darstellen. Diese individuellen Organoide sind besonders hilfreich, um neurologische Erkrankungen und die persönlichen Unterschiede in der Krankheitsanfälligkeit zu erforschen.

Können Organoide lernen?

In Tierversuchen untersucht man oft das Verhalten der Tiere oder führt Messungen an ihrem Gehirn durch. Bei Gehirn-Organoiden hingegen lassen sich die grundlegenden Prozesse der Zellen und Moleküle, die für Denken und Gedächtnis wichtig sind, genauer untersuchen. Dazu gehört etwa die Fähigkeit der Nervenzellen, sich an Veränderungen anzupassen (synaptische Plastizität), und die Art, wie sie sich miteinander verbinden (neuronale Konnektivität). Kognitive Funktionen sind mit bestimmten Mustern von Gehirnwellen wie Theta- und Gamma-Wellen verbunden, die auch in solchen Zellkulturen messbar sind. Diese Wellen zeigen die abgestimmte Aktivität der Nervenzellen, die für komplexe Denkprozesse notwendig ist.

Wie beeinflussen Umweltchemikalien die Entwicklung des Gehirns?

Mit Gehirn-Organoiden lässt sich nachvollziehen, wie Umwelteinflüsse die Gehirnentwicklung beeinflussen können. Studien mit diesen Modellen haben gezeigt, dass Giftstoffe, die während bestimmter Entwicklungsphasen einwirken, dazu führen können, dass sich untypische neuronale Verbindungen bilden, die mit psychischen Störungen in Verbindung stehen. Der Einsatz von Gehirn-Organoiden könnte auch in der Umweltforschung (Ökotoxikologie) helfen, die Wirkung von Chemikalien auf die Gehirnentwicklung bei Tieren zu untersuchen, wodurch Tierversuche in diesem Bereich ersetzt werden könnten.

Intelligente Organoide

„Organoid Intelligence“ (OI) ist ein neuer Ansatz, der versucht, menschliches Denken besser zu verstehen und nachzuahmen, indem die Rechenkapazität von Gehirn-Organoiden genutzt wird. Erste Studien zeigen, dass diese kleinen Gehirnmodelle wie lebende Netzwerke arbeiten können: Sie verarbeiten Informationen und reagieren auf Reize. Beispielsweise wurden Gehirn-Organoide bereits genutzt, um Roboter zu steuern und einfache Rechenaufgaben zu lösen.

OI-Technologien haben das Potenzial, komplexe Denkprozesse wie Wahrnehmung, Entscheidungsfindung, Gedächtnis und Emotionen besser zu erklären. Indem solche Prozesse in Gehirn-Organoiden modelliert werden, können Wissenschaftler die Grundlagen dieser Funktionen genauer erforschen. Gleichzeitig werfen diese Technologien ethische und gesellschaftliche Fragen auf, da sie potenziell ein Bewusstsein und Empfindungsvermögen entwickeln könnten. Forscher wie Hartung plädieren deshalb für eine verantwortungsvolle und klare Kommunikation, um sowohl übertriebene Erwartungen als auch unbegründete Ängste zu vermeiden.