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Aachener Forscher lassen junge Ratten wochenlang hungern

Eine Forschergruppe der RWTH Aachen macht seit Jahren Hungerversuche mit Ratten, vorgeblich, um die Magersucht weiblicher Teenager zu erforschen. Die Tiere erhalten so wenig Futter, dass sie nach 3 Wochen nur noch die Hälfte des Gewichts ihrer normal gefütterten Artgenossen aufweisen. Dabei ist es ethisch verwerflich und wissenschaftlich unsinnig, eine so komplexe Erkrankung wie die Anorexia nervosa im „Tiermodell“ nachstellen zu wollen. Sinnvolle Untersuchungsmöglichkeiten mit bildgebenden Verfahren an Patienten und Forschung an modernen Zellsystemen („Anorexie in der Petrischale“) liefern dagegen relevante Erkenntnisse.

Magersucht: eine komplexe Erkrankung mit multiplen Ursachen

Magersucht oder Anorexie ist eine schwerwiegende und meist langwierige Erkrankung, an der primär weibliche Teenager und junge Frauen leiden. Die Betroffenen hungern sich selbst aus – bis hin zum lebensbedrohlichen Gewichtsverlust. Ursächliche Faktoren sind vielfältig, so ist eine gewisse genetische Prädisposition nicht auszuschließen, allerdings ist es aktuellen Erkenntnissen zufolge unumstritten, dass die hauptsächlichen Ursachen dieser Essstörung im psychologischen Bereich liegen. Vor allem gesellschaftliche Faktoren spielen bei der Entstehung von Magersucht eine große Rolle (1). Das extreme Untergewicht der Patienten und die daraus resultierenden physiologischen Auswirkungen, z.B. hormonelle Veränderungen und deren Folgen, stellen einzig die Symptome der Erkrankung dar. Die Langzeit-Therapie der Magersucht sowie die überaus wichtige Rückfall-Prophylaxe erfolgen sinnvollerweise auf psychologischer und psychosozialer Ebene. Es ist daher mehr als fragwürdig, ob junge Ratten, die künstlich vom Menschen ausgehungert werden, ein geeignetes Modell darstellen, um das komplexe Phänomen Magersucht zu untersuchen.

Ausgehungerte Ratten als Modell für Magersucht beim Menschen

Wissenschaftler der Rheinisch-Westfälischen Technischen Universität (RWTH) Aachen scheinen tatsächlich einen Sinn darin zu sehen, die Auswirkungen einer vermeintlich künstlich induzierten Magersucht an Ratten zu erforschen. Veröffentlichungen der Abteilung Neuroanatomie und der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kinder- und Jugendalters der Uniklinik RWTH Aachen hierzu finden sich aus den Jahren 2016, 2018 und 2019. Hierbei sind der Zweck und die Sinnhaftigkeit dieser Versuche generell zu hinterfragen – abgesehen von der Absurdität eines solchen „Tiermodells“ und der grundsätzlich mangelnden Übertragbarkeit von Mensch auf Tier.

In einer Forschungsarbeit an 47 Ratten aus dem Jahr 2016 wurden 4 Wochen junge weibliche Ratten als „Modell“ für weibliche Teenager genutzt. Es wurde untersucht, ob bei den hungernden Tieren eine Senkung des Östrogen-Spiegels zu verzeichnen war, sowie eine Beeinträchtigung der Gedächtnisleistung. Ziel der Arbeit war nach eigenen Angaben der Aachener Forscher, einen Zusammenhang von Östrogen-Spiegel und Gedächtnisleistung zu prüfen. Abgesehen von der Fragwürdigkeit der Versuchsdurchführung an sich, ist ein solches Vorhaben sinnlos. Die Autoren der Publikation schreiben selbst, dass bei magersüchtigen Patienten bereits beobachtet wurde, dass es zu einem Östrogen-Abfall und einer verminderten Gedächtnisleistung kommt. Auch die Tatsache, dass aufgrund der hormonellen Veränderungen der Menstruationszyklus der Tiere gestört ist, feiern die Forscher als großen Erfolg, da es ja die Beobachtungen am Menschen bestätigt. Es ist nicht nachzuvollziehen und ethisch nicht zu rechtfertigen, dass Tiere solchem Leid ausgesetzt werden, um ein Phänomen zu bestätigen, das beim Menschen bereits bekannt ist.

Wir kritisieren seit langem eben dieses Problem in der Grundlagenforschung: Die annähernd ungebremste Forscherfreiheit, die dazu führt, dass Versuche an Tieren genehmigt und durchgeführt werden, die keine medizinische Relevanz und/oder Sinnhaftigkeit haben.

Hinzu kommt, dass der Versuchsaufbau und das damit induzierte „Tiermodell“ mit einem an Magersucht erkrankten Menschen nichts zu tun hat. Ein Mensch kann z.B. durchaus 40 Tage oder sogar länger ohne Nahrung auskommen. Es ist bekannt, dass manche Magersüchtige phasenweise überhaupt keine Nahrung zu sich nehmen. Die jungen Ratten würden aber bei vollständigem Nahrungsentzug nach kürzester Zeit sterben. Deswegen wird bei dem Versuchsaufbau ein schlechter Kompromiss geschlossen, den die Ratten gerade noch überleben und der das Essverhalten eines Magersüchtigen noch so einigermaßen repräsentieren soll. Die Störungen im Essverhalten von Magersüchtigen sind so vielfältiger und individueller Natur, dass es überhaupt keinen sinnvollen Versuchsaufbau gibt, der repräsentativ für diese Erkrankung wäre. Im vorliegenden Fall erhielten die Ratten 7 Tage lang nur 40% der normalen Futterration („akutes Hungern“), bei einigen Tieren wurde im Anschluss daran das um ¼ reduzierte Körpergewicht weitere 14 Tage gehalten, indem die Futtermenge entsprechend angepasst wurde („chronisches Hungern“). Verglichen mit gleichaltrigen normal gefütterten Ratten, die als Kontrolle die normale Futterration erhielten, wogen die chronisch gehungerten Tiere am Ende des Versuchs nur noch die Hälfte. Das würde für einen normalgewichtigen 60 kg schweren Menschen bedeuten, er wiegt nur noch 30 kg.

Um die Gedächtnisleistung der Ratten zu evaluieren, wird ein sogenannter Objekterkennungstest durchgeführt. Eine Ratte wird in eine Kiste mit zwei Objekten gesetzt, die sie beschnuppern kann. Nach einer einstündigen Pause wird der Versuch wiederholt, wobei ein Objekt ausgetauscht wird. Interessiert sich die Ratte weniger für das neue Objekt, wird dies als schwächere Gedächtnisleistung interpretiert. Es überrascht nicht, dass die Ergebnisse dieser fragwürdigen Analyse bei allen Tieren, unabhängig von der Fütterung, sehr stark variieren.

In zwei Veröffentlichungen aus dem Jahr 2018 versucht die Aachener Forschungsgruppe ein „Tiermodell“ für die Anorexia nervosa zu etablieren und daran längst bekanntes Wissen, nämlich, dass bei Magersucht-Patienten das Gehirnvolumen abnimmt, zu bestätigen (3,4). Wieder werden junge weibliche Ratten erst 7 Tage „akut“ gehungert, sodass sie 25% ihres Ausgangsgewichts abnehmen. Dann werden sie durch Anpassen der Futterration 14 Tage lang auf diesem Gewicht gehalten, bevor sie getötet werden. Am Ende wiegen die gehungerten Ratten nur halb so viel wie ihre normal gefütterten Artgenossen, die in dieser Zeit wachsen und an Gewicht zulegen. Es zeigt sich, dass Volumenreduktionen bestimmter Hirnstrukturen in dem chronischen Hunger-Modell bei Ratten mit den Befunden bei Menschen mit Anorexie übereinstimmen. 41 bzw. 71 Ratten mussten für diese banalen Erkenntnisse leiden und sterben.

Im Jahr 2019 folgt eine weitere Publikation (5). Diesmal sollen die Mechanismen der Volumenreduktion des Gehirns von chronisch gehungerten Ratten ergründet werden. Die Tiere werden erst akut, dann chronisch gehungert und einige Ratten werden danach wieder normal gefüttert. Es werden Magnetresonanz-Aufnahmen vom Gehirn gemacht – eine Untersuchungsmöglichkeit, die problemlos an magersüchtigen Patienten durchgeführt werden könnte – und die Tiere getötet. Insgesamt 47 Ratten mussten dafür leiden und sterben.

Lösungswege brauchen keine Tierversuche

Man braucht nicht hunderte von Ratten im Labor fast verhungern zu lassen, um an Magersucht erkrankten Menschen zu helfen. Was würde näherliegen, als die jugendlichen Patientinnen selbst mit bildgebenden Verfahren zu untersuchen? Dies würde zu relevanten Aussagen führen. In der Studie von 2019 merken die Autoren an, dass es gut wäre, Daten verstorbener Magersüchtiger zu haben. Es gäbe nur zwei Hirnstudien von drei Patienten. Dieses Defizit darf aber kein Grund sein, sich einer anderen Spezies zuzuwenden, die aufgrund mangelnder Übertragbarkeit unzuverlässige Daten liefert.

Um die molekularen Mechanismen, also die Vorgänge in den Zellen kranker Menschen, zu erforschen, geht ein internationales Wissenschaftlerteam innovative Wege. Das Team um Alysson Muotri von der University of California, San Diego, hat eine „Anorexie in der Petrischale“ entwickelt. Magersüchtigen Teenagern und gesunden Vergleichspersonen wurden Hautzellen entnommen und diese zu sogenannten induzierten pluripotenten Stammzellen (iPSCs) zurückprogrammiert. Daraus haben die Wissenschaftler Nervenzellen wachsen lassen, die die genetischen Informationen ihrer Trägerinnen beinhalten. Mit diesem innovativen System ist es erstmals gelungen, ein bestimmtes Gen zu identifizieren, das mit der Anorexie in Verbindung steht – eine hochrelevante Erkenntnis, die die zahlreichen Tierversuche in der Vergangenheit nicht liefern konnten (6).

Die tragenden Säulen einer erfolgreichen Behandlung sind jedoch bekanntermaßen die Psychotherapie und die Ernährungsberatung. Das Erlernen eines normalen Essverhaltens und das Ergründen der psychischen Probleme sowie gezieltes Verhaltenstraining stehen hierbei im Vordergrund. Eine Gesellschaft, in der Erfolg und Selbstwertgefühl an Leistung und Schönheitsidealen gemessen werden, ist im Allgemeinen kritisch zu betrachten. Hier ist es wichtig, Prophylaxe bereits im Kindesalter zu betreiben – im Elternhaus und in den Schulen. In jedem Fall wird keinem Menschen damit geholfen, wenn Ratten im Labor ausgehungert werden und wochenlang für eine sehr fragwürdige Forschung leiden müssen.

Dr. rer. nat. Tamara Zietek

31.07.2019

Quellen

(1) Magersucht (Anorexie). Apotheken-Umschau, 23.04.2019 https://www.apotheken-umschau.de/Magersucht
(2) Paulukat L. et al.: Memory impairment is associated with the loss of regular oestrous cycle and plasma oestradiol levels in an activity-based anorexia animal model. World Journal of Biological Psychiatry 2016; 17(4): 274-284
(3) Frintrop L. et al.: Reduced astrocyte density underlying brain volume reduction in activity-based anorexia rats. The World Journal of Biological Psychiatry 2018; 19(3): 225-235
(4) Frintrop L. et al.: Establishment of a chronic activity-based anorexia rat model. Journal of Neuroscience Methods 2018; 293(1): 191-198
(5) Frintrop L. et al.: The reduction of astrocytes and brain volume loss in anorexia nervosa—the impact of starvation and refeeding in a rodent model. Translational Psychiatry 2019; 9: 159
(6) Negraes P.D. et al.: Modeling anorexia nervosa: transcriptional insights from human iPSC-derived neurons. Translational Psychiatry 2017; 7(3): e1060